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Die SEG fördert die Zusammenarbeit unter den Entomologinnen und Entomologen. Sie steht sowohl Berufsleuten als auch Interessierten offen. Der Schwerpunkt der SEG liegt bei der Erforschung der einheimischen Insekten.

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Wo sind die Libellen?

Grosse Moosjungfer Leucorrhinia pectoralis (Foto Hansruedi Wildermuth)
Bild: Hansruedi Wildermuth

Hansruedi Wildermuth

Libellen sind mir seit der Kindheit vertraut. Am Gartenweiher bestaunte ich den blauen Plattbauch, die roten Heidelibellen und die bunten Mosaikjungfern. Beim Baden am See faszinierten mich die wirbelnden Luftkämpfe des Grossen Blaupfeils, am Bach die schmetterlingshaft flatternden Prachtlibellen – ”fliegende Juwelen” eben. Erhaschen wollte ich sie, in den Händen halten und genauer betrachten – ein aussichtsloses Unterfangen, die Insekten waren viel zu flink. Doch die Faszination blieb, und schon als Schüler versuchte ich, die scheuen Tiere mit einer einfachen Kamera und aufgesteckter Vorsatzlinse zu fotografieren, nicht sehr erfolgreich.

Erst viel später, einige Jahre nach dem Zoologiestudium, begann ich mich ernsthafter mit den Libellen zu befassen. Anlass war die zufällige Entdeckung einer Grossen Moosjungfer Leucorrhinia pectoralis in einem Moor, sozusagen vor meiner Haustür, in der ”Drumlinlandschaft Zürcher Oberland”. Das prächtig gefärbte Insekt sass am Rand eines weitgehend verlandeten Torfstichs, flog dann und wann auf und setzte sich wieder auf seine Warte. Aus der Literatur erfuhr ich, dass es sich um eine schweizweit seltene Libellenart handelte, die sich nur in Torfgewässern entwickelt. Es war sofort klar, dass es Massnahmen brauchte, um sie am Fundort zu erhalten und zu fördern: Die zugewachsenen Weiher mussten wieder freigelegt werden. Nun begannen engagierte Mitglieder des damals neu gegründeten lokalen Naturschutzvereins die verwachsenen Torfstiche wieder zu öffnen. So entstanden mit der Zeit 25 kleine Moorgewässer, die Population der Grossen Moosjungfer blühte auf.

Bei der Entdeckung dieser Moosjungfer vor 50 Jahren war über die Biologie kaum etwas bekannt. Für eine gezielte Förderung der Art brauchte es ökologisches Grundlagenwissen. Damit war Forschung gefragt. Wo und wie entwickeln sich die Larven? Wie lange dauern Ei-, Larven- und Imaginalstadium? Wann und wo schlüpfen die Imagines? Welche physikalisch-chemischen Bedingungen müssen in den Larvengewässern erfüllt sein? Woran erkennen die Libellen ihre artspezifischen Gewässer? Die Entwicklungserfolge liessen sich für jedes Gewässer anhand der geschlüpften Libellen messen; Exuvien waren die Beweisstücke. Nach rund drei Jahrzehnten verfügte die Drumlinlandschaft landesweit über die stärkste Population der Grossen Moosjungfer.

Gleichzeitig mit der Erforschung einer Art begann ich mit einer Bestandesaufnahme der gesamten Libellenfauna in der Drumlinlandschaft. Die Kleingewässer des rund neun Quadratkilometer grossen Naturschutzgebietes wurden minutiös nach Libellen abgesucht und ihre Abundanzen geschätzt. So liessen sich im Laufe von 35 Jahren auf über 1000 Exkursionen 51 Libellenarten nachweisen, 27 davon mit regelmässiger Fortpflanzung und teils in beachtlicher Anzahl. Vier Arten wiesen nur noch kleine Bestände auf und verschwanden in dieser Zeit allmählich aus dem Gebiet. Eine davon, die Zwerglibelle Nehalennia speciosa, fand meine besondere Beachtung. Sie, die kleinste Libelle Europas, wurde für die Schweiz 1886 vom international bekannten Libellenforscher Friedrich Ris aus Rheinau entdeckt. Bis in die 1970er-Jahre waren in der Schweiz 17 Vorkommen bekannt, acht davon jedoch bereits erloschen, zwei noch bestehende in der Drumlinlandschaft. Hier besuchte ich die Lokalitäten mehrmals jährlich und musste feststellen, dass die Populationen zunehmend schrumpften. Das letzte Exemplar fand ich 1990, seither ist die Art hier verschwunden, wohl infolge Verschlechterung ihres speziellen Habitats.

Manche Libellenarten der Drumlinlandschaft profitierten von den jährlich wiederkehrenden Aufwertungs- und Pflegemassnahmen. Mit dem Einbau kleiner Stauwehre in den Moorgräben liess sich verhindern, dass diese auch während trocken-heisser Perioden kaum austrockneten. Von den 19 hier nachgewiesenen Libellenarten profitierte vor allem der Kleine Blaupfeil Orthetrum coerulescens; die Population gedieh prächtig. Auch die vom Aussterben bedrohte Kleine Binsenjungfer Lestes virens konnte sich weiter ausbreiten, dank wiederkehrender Pflegemassnahmen an den Torfstichen.

Ab den 1990er-Jahren tauchten in der ”Drumlinlandschaft” und anderswo in der Schweiz sporadisch und zunehmend häufig Arten auf, deren Hauptverbreitung im mediterranen Raum liegt, allen voran die Feuerlibelle Crocothemis erythraea und die Südliche Mosaikjungfer Aeshna affinis, die sich im Gebiet auch schon erfolgreich fortgepflanzt hat. Die beiden zählen zu den Gewinnern der Klimaerwärmung, doch gibt es auch Verlierer: So sind die Arktische Smaragdlibelle Somatochlora arctica, die Torf-Mosaikjungfer Aeshna juncea und die Schwarze Heidelibelle Sympetrum danae aus dem Gebiet praktisch verschwunden; sie alle sind an kühles Klima angepasst.

Die Klimaveränderung setzt offensichtlich auch den alpinen Libellen zu. Zwischen 1980 und 2010 war ich oft in den Alpen unterwegs und mit Untersuchungen an verschiedenen typischen ”Gebirgsarten” wie Aeshna caerulea, A. juncea, A. subarctica, Somatochlora alpestris und S. arctica beschäftigt. Dabei hatte ich nach der Jahrhundertwende mehrfach erlebt, dass mir bekannte Hangmoore und Alpweiher in Graubünden und im grenznahen Tirol bei einem Wiederbesuch nahezu oder vollständig ausgetrocknet waren. Es kam auch vor, dass Quellen in der Zwischenzeit gefasst wurden. Libellenlarven waren nur noch wenige oder gar keine mehr zu finden. Es zeigte sich deutlich, dass für diese teils ohnehin seltenen Arten neben der Temperaturerhöhung vor allem die reduzierte Wasserverfügbarkeit problematisch ist. Die Alpen könnten so ihre typischen Vertreter der Libellenfauna verlieren – ein bedauerlicher Biodiversitätsverlust.

Ebenfalls zu bedenken gibt mir eine Entwicklung im Mittelland: Hier sind selbst bisher häufige Arten auf dem Rückzug. Wo bis vor Kurzem noch Scharen der Becherjungfer Enallagma cyathigerum flogen, sind die Bestände deutlich geschrumpft. Ähnliche Feststellungen machten Kollegen andernorts. Auch die Blaugrüne Mosaikjungfer Aeshna cyanea, die fast jeden Gartenweiher besiedelt, zeigt einen deutlichen Abwärtstrend. An einem Moorweiher, an dem ich noch vor Jahren Dutzende von Exuvien gefunden hatte, gab es in letzter Zeit nur noch vereinzelte Schlupfnachweise. Dasselbe beobachtete ich an der Grossen Moosjungfer, deren Population in der ”Drumlinlandschaft” nach erfolgreichem Aufschwung zusammenbrach, teilweise wohl als Folge von sommerlichen Hitzeperioden. Es sind aber nicht nur die Libellen betroffen, auch die Bremsen und Stechmücken, gegen die ich mich auf Libellenexkursionen ständig wehren musste, sind selten geworden. Den Libellenlarven, die ich bei der Aufzucht zu Studienzwecken jeweils mit Mückenlarven fütterte, fehlte es an Nahrung; Mückenzuchten im Garten sind mir nicht mehr gelungen. Das Insektensterben hat offenbar flächendeckend ein bedenkliches Ausmass angenommen. Struktur- und Nutzungsänderungen in der Landschaft sind ein Teil der Ursache, der grossflächige Einsatz von Pestiziden ein anderer. Wissenschaftliche Studien an Libellenlarven in Japan, in den U.S.A und in Europa haben klar gezeigt, dass Neonicotinoide sich nicht nur auf die terrestrischen, sondern auch auf die aquatischen Insekten fatal auswirken.


Hansruedi Wildermuth, Rüti ZH, ist Mitherausgeber von "Odonata - Die Libellen der Schweiz" und Autor von "Die Libellen Europas".